Mut, sich Zeit rauszunehmen

Ein Gespräch mit Eveline Räz-Rey – Aus der Sicht einer Angehörigen von Parkinsonpatienten

Die Krankheit Ihres Mannes veränderte auch Eveline Räz-Reys Leben. Doch statt sich zu beugen, gründete sie 2005 SchenkART und schuf 2012 die Schweizer Schokoladenmarke CRU RICHE. Im Interview teilt sie ihre Reise als Angehörige, erzählt von liebevoller Abgrenzung und wie sie durch ihre Selbständigkeit und die Schokoladenproduktion Sinn und Kraft fand – eine inspirierende Geschichte der Resilienz.

Mein Mann bekam die Diagnose Parkinson im Jahr 2000, da war er 45 Jahre alt, ich war 44. Ich habe in der Zeit den Kurs «Dich pflegen, für mich sorgen» besucht, um mich mit meiner Zukunft auseinander zu setzen. Schnell wurde mir klar, dass ich einen eigenen Lebensinhalt brauchte. Daraus ist dann 2005 meine erste Selbständigkeit SchenkART entstanden, ein Ein-Frau-Unternehmen mit nachhaltigen Geschenkideen, vor allem für Geschäftskunden. Ab 2012 folgte dann der Launch der Schweizer Schokoladenmarke CRU RICHE - Die Schweizer Schokolade mit Engagement.

Wie sind Sie als Angehörige damit umgegangen?

Es ist eine Frage von Balance – In-sich-hören – «was brauche ich?». Jeder benötigt etwas anderes, um in Balance zu bleiben – dafür gibt es kein Rezept. Wichtig ist, offen zu sein und zu spüren, was einem persönlich Energie gibt. Für mich war und ist das, meiner Arbeit und Passion folgen zu können.

Ich war schon immer positiv, vielleicht manchmal zu positiv (lacht). Ich sehe immer zuerst die Möglichkeiten, nicht die Hindernisse. Vor allem habe ich Vertrauen ins Leben, dass jede Situation zu meistern ist. «Man sollte jede noch so kleine Münze aufheben und was daraus machen.»

 

Sie haben etwas aufgebaut, während ihr Mann abbaute

Ja, ich habe ihm sehr klar gesagt: «Wenn du Hilfe brauchst, dann frage danach.» Anstatt permanent Hilfestellung zu geben, habe ich meinem Mann damit die Verantwortung übertragen. Für eine respektvolle Partnerschaft war das sehr wichtig. Zu Beginn konnte mein Mann noch Teilzeit arbeiten. Er ist immer offen mit seiner Erkrankung umgegangen, was die Situation sicherlich etwas erleichtert hat.

Am Anfang fand mein Mann es gar nicht toll, dass ich regelmässig Zeit in Ghana zum Aufbau der Schokoladenmarke verbracht habe. Als er gesehen hat, wie gut mir das tut (und damit auch schlussendlich uns beiden) und was daraus entsteht – hat er gesagt: «Gut, dass du das machst!»

Als Angehörige kann ich nur betonen, unbedingt den Mut zu haben, sich seine Zeitfenster zu nehmen.

 

Dazu fällt mir «liebevolles Abgrenzen» ein.
Kamen Sie denn auch an und über Ihre Grenzen? Kannten Sie das Gefühl, aggressiv gegenüber Ihrem Mann zu werden?

Ja, das passt sehr schön mit der liebevollen Abgrenzung! Ich hatte damals einen Artikel in einer Zeitung über Angehörige gelesen, die ihren kranken Partner umgebracht haben. Nicht, dass ich in dieser Hinsicht gefährdet war – aber ich habe es nachvollziehen können.

Ich bin psychisch und auch physisch teilweise sehr an und über meine Grenzen gekommen. Mein Mann hat manchmal nachts sieben Mal gerufen, wollte aufstehen, benötigte Hilfe. Ich konnte nicht schlafen und musste tagsüber doch immer funktionieren. Das zehrt, sehr. Und doch bin ich nicht aggressiv gegenüber meinem Mann geworden.

 

Wie haben Sie das geschafft?

Nicht im Affekt handeln. Ich habe mir bewusst ein Zeitfenster genommen, um Abstand zu nehmen und erst dann zu reagieren. Ich hatte Kommunikationskurse gemacht, die mir sehr geholfen haben. Denn, wie es gemeint ist und wie es ankommt – das ist zweierlei. Das Bewusstsein für die unterschiedlichen Kanäle hilft oft – besonders im Umgang mit kranken Personen. Und mit nahen Angehörigen ist dies oft sogar noch schwerer.

Natur, Malen, Wandern, Steine und vor allem Bergkristalle suchen – das hat mein Mann genossen. Wir haben gemeinsam Ferien gemacht – nach seinen Bedürfnissen und dort, wo er gut laufen konnte. Einmal im Jahr habe ich Ferien mit meiner Schwester gemacht, was mir immer sehr gutgetan hat. Ich habe von Anfang an den Mut gehabt, mir diese Zeit zu nehmen – auch, um zu vergessen und kraftspendenden Momente zu geniessen. So hatte ich Oasen für mich – und das nicht erst dann, wenn ich bereits «auf dem Zahnfleisch ging».

«Mit der Krankheit beginnt ein stetiges Abschiednehmen.»

Denn Parkinson ist ein stetiges Abschiednehmen von Alltäglichem.

Das galt nicht nur für meinen Mann, sondern genauso für mich als Angehörige. Mein Mann hatte eine Jolle auf dem Thunersee – Segeln war neben den Bergkristallen sein grosses Hobby. Als er merkte, dass das Segeln aufgrund seiner fortschreitenden Einschränkungen nicht mehr möglich war, hat er das Segelboot verkauft. Von dem Ertrag hat er sich zwei grosse Bergkristalle gekauft. Diese Bergkristalle in der Vitrine haben meinem Mann bis zum Schluss Kraft gegeben und er hat seine wertvollen Segel-Erinnerungen auch daraus ziehen können. Er hatte sich schon beruflich als Chemiker mit Kristallisation beschäftigt. In der Chemie ist Kristallisation ein Reinigungsprozess. Das hat ihn immer fasziniert.

Mein Mann hat auch weit vorausgedacht – er hat seinen eigenen Grabstein in den Bergen gefunden, bearbeitet und 2012 dem Steinmetz übergeben. Er hat ihn gebeten, diesen Stein zu hüten und zu gegebener Zeit fertig zu stellen ist. 300 bis 400 Bergkristalle hat mein Mann während seines Lebens gesammelt – diese waren eine wunderbare Erinnerung an wertvolle Lebensinhalte. Bei seiner Abschiedsfeier wurden diese Steine integriert. Jeder durfte einen Bergkristall mit nach Hause nehmen. Die Idee, dass Familie und Freunde seine geliebten Steine bei sich behalten, hat ihm sehr gefallen.

Ich habe Bilder meines Mannes in meine Arbeit integriert. U.a. das Bild «Innehalten» (siehe Foto) biete ich in meinem Café als Karte an. Eigentlich wäre er gerne Zeichnungslehrer geworden, das war jedoch nicht möglich. Während unseres England-Aufenthaltes hat er dann Aquarellkurse genommen und die Liebe zur Kunst wiedergefunden. Als Kind konnte er sich schon für Scherenschnitte begeistern. Dieses filigrane sorgfältige Arbeiten hat ihn in seinem Leben begleitet und ihn auch ausgemacht. Er war sehr genau, hartnäckig und ist drangeblieben – auch wenn es schwierig war und wurde. Während der Erkrankung hat er einfach weitergemacht, auch wenn sich die Kunst mit der fortschreitenden Erkrankung verändert hat, von der gegenständlichen bis hin zur abstrakten Kunst. Teilweise wurde er wütend, wenn Dinge nicht mehr funktionierten – doch so hat er seine Grenzen gespürt und schlussendlich Schritt für Schritt Abschied von seinen Fähigkeiten genommen.

Mir hat meine Selbständigkeit Kraft gegeben, so dass die Pflege bis zum Schluss zu Hause möglich war. Wichtig waren für mich auch die professionelle Beratung, welche Leistungen wir beantragen können. U.a. die frühe Diagnose in seinem recht jungen Alter haben zuerst die Hilflosenentschädigung und später die Assistenzbeiträge ermöglicht. Dank letzteren konnten wir in zunehmendem Masse Betreuerinnen anstellen, die uns sehr unterstützt haben. Das ist sehr wertvoll, denn so können behinderte Personen möglichst lange daheim in ihrem Umfeld bleiben. Hier fehlt es aber oft an Informationen für Angehörige. Es war eine befreundete Person mit einem behinderten Sohn, die mich auf Assistenzbeiträge hinwies.

Am Schluss hatten wir Palliativ-Spitex und einen guten Arzt, der uns begleitet hat. Irgendwann hat mein Mann dann gar keine Kalorien mehr zu sich genommen. Ab und zu ein Löffeli Vermicelles – sein Lieblingsdessert.

 

Und wie kam es denn eigentlich, dass Sie ins Schokoladen-Business gestartet sind?

2007 wurde das Porto für Pakete erhöht. Da kam mir die Idee, Geschenke im Briefformat zu entwickeln. Ich komme aus Bern und da gibt es den feinen Berner Haselnusslebkuchen: flach, stabil und lange haltbar – ideal für den Versand im Briefformat. Ein guter Stern aus eben diesem feinen Gebäck war geboren. Ich habe eine Verpackung dafür geschaffen und so konnten meine Kunden schweizweit einen guten Stern oder ein anderes Gebäck beim lokalen Bäcker bestellen.

Bei mir gab und gibt es so viele glückliche Zufälle. Einer davon war das Treffen mit Ruedi Berner, ehemals Chocolatier in Rheinfelden – er verarbeitete Felchlin Schokolade. Und so entstand die Idee, beste Schokolade klein und kompakt zu versenden. Es begann für mich als Ein-Frau-Unternehmerin eine sehr schöne Zusammenarbeit mit Felchlin, aus welcher sich dann auch die Mitarbeit im Yayra-Glover-Projekt in Ghana ergab. Da habe ich sozusagen «wieder eine Münze gefunden und aufgehoben».

Im Mai 2012 erfolgte der Launch der Schokoladenmarke CRU RICHE am Festival der Kulturen in Rheinfelden. In diesem Zusammenhang wurde auch der kurz zuvor veröffentlichte Film «Zartbitter» über Yayra Glover gezeigt. Yayra Glover hat sich auf den biologischen Anbau von Kakao spezialisiert. Mit seinem Unternehmen möchte er jungen Menschen in seinem Heimatland Arbeit und eine Zukunft geben.

Aufgrund des grossen Interesses wurde im gleichen Jahr der Fricktaler Verein Yayra Glover gegründet, um damit diese Arbeit in Ghana zu unterstützen. Dieser Verein wurde auf Initiative von mir und Ruedi Berner ins Leben gerufen. Verschiedene Vereinsmitglieder gewährten damals Darlehen von über 200'000 CHF. Der Betrag wurde vollumfänglich zurückgezahlt. Ziel war immer, das Projekt in die Selbständigkeit zu führen und daraus kein Wohltätigkeits-, sondern ein Wirtschaftsprojekt zu machen. Dieser Zweck ist nun erfüllt und daher wurde der Verein 11 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst.

Mit der Schokoladenmarke CRU RICHE unterstützen wir die Kakaobauern in Ghana weiter.

Ich bin überzeugt, dass viele Kunden bereit sind, mehr für Schokolade zu zahlen mit dem Wissen, dass das Geld genau dort ankommt, wo es gebraucht wird – also am Ursprung bei den Kakaobauern.

Im Salmenpark im Café Riche kann man in die Schoggiwelt eintauchen –, wo Ghana und die Schweiz sich treffen. Es ist ein wunderbarer Treffpunkt zum Verweilen und zum Austauschen. Überraschendes aus der Schoggiwelt kann dort entdeckt und degustiert werden. Die Schokolade ist bio-zertifiziert und durch die transparente Zusammenarbeit mit den Produzenten auf Augenhöhe mehr als fair. Dem Konsumenten ist oft gar nicht bewusst, dass die biologische und regenerative Bewirtschaftung die wichtigste Grundlage zur Erhaltung fruchtbarer Böden ist und daher essenziell für die Kakaobauern und deren Lebensunterhalt.

In Ghana ist es vorwärtsgegangen.

Daheim ist es zurückgegangen.

 

Sie sind eine sprühende lebensfreudige Frau…

…ja, ich lege meinen Blick gerne auf Glücksmomente – und Widrigkeiten gibt es natürlich in jedem Leben! Der Fokus ist wichtig, das halbvolle Glas…

Mein Mann hat bis 2009 Teilzeit gearbeitet, danach war dies nicht mehr möglich.

 

Haben Sie eine Vision – wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Nach der Auflösung des Vereins habe ich mittlerweile die CRU RICHE AG gegründet. Ich möchte Menschen finden, die meine Vision in meiner AG mittragen. Einen Chocolatier mit demselben Zukunftsbild zu finden – das wäre klasse!

Ich gehe mit Zuversicht und offenen Augen weiter!

In Ghana haben wir Hilfe zur Selbsthilfe gegeben – beruhend auf Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit.

 

Ihr Mann war auch in Behandlung bei Dr. med. Heiner Brunnschweiler, Facharzt Neurologie FMH und Stv. Chefarzt Neurologie der Reha Rheinfelden.

Wir haben Dr. Brunnschweiler sehr geschätzt, eine sehr angenehme und unterstützende Persönlichkeit. Mein Mann hat ja dann recht schnell eine Duodopa-Pumpe erhalten. (Mit dieser Pumpe wird L-Dopa als Gel (Duodopa®) direkt und kontinuierlich über eine Sonde in den Dünndarm abgegeben. Damit kann eine Reduktion der motorischen wie auch der nichtmotorischen Beweglichkeit erreicht werden.) Dies hat ihm ermöglicht, wieder in die Berge gehen zu können.

 

Ich kann mir vorstellen, Dr. Brunnschweiler hätte uns gern öfter gesehen (lacht). Wir sind sehr selbständig gewesen, haben viel selbst in die Hand genommen. Unterstützung gesucht und angenommen haben wir, wenn es wirklich nötig war. Unsere Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit haben uns geholfen, die Herausforderungen zu meistern und so zu leben, wie es damals für uns das Optimale in der Situation war.

 

Im Herbst 2022 ist Bernhard Räz mit 68 Jahren verstorben.

Eveline Räz-Rey behält ihre Erinnerungen in Herz und Kopf und setzt mit Dankbarkeit und Engagement ihre Vision um…

Reha Rheinfelden

Rehabilitationszentrum